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Helfen statt Miete zahlen

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Steigende Mietpreise machen auch vor Studentenvierteln nicht Halt. Ein kreativer Ausweg: Studierende leben mietfrei bei Menschen, die im Alltag Hilfe benötigen. Doch hierbei geht es nicht nur ums Geld.

Die Hecke ist akkurat gestutzt. Der Rasen gemäht. Der Rosenstrauch trägt noch einzelne rosa Blüten, obwohl die Blätter schon längst abgefallen sind. “Manchmal arbeite ich hier zwei Stunden lang, ohne dass ich wirklich einen Unterschied sehe”, sagt Oliver Baumgärtel und deutet in den Garten hinaus. “Aber alles, was ich noch machen kann, erledigen wir zusammen”, wirft Marianne Appolt ein. “Das ist mir wichtig. Damit ich am Ende sagen kann: Haben wir das nicht schön gemacht?”

Baumgärtel ist weder Appolts Gärtner noch mit ihr verwandt. Sie sind Mitbewohner. Vor zwei Jahren zog der Student ins Einfamilienhaus der Rentnerin in Bergisch Gladbach vor den Toren Kölns. “Als ich für das Studium aus Bayern hierher gezogen bin, hatte ich Schwierigkeiten, ein Zimmer zu finden”, sagt der 21-Jährige. Im Internet fand er nur viel zu teure oder unseriöse Angebote, auch im Studentenwohnheim hatte er kein Glück. Dann stieß er auf das Inserat von Marianne Appolt.

Vertrauen statt Zweckgemeinschaft

Jetzt wohnt Baumgärtel bei ihr im ersten Stock. Er hat dort ein geräumiges Schlafzimmer mit Balkon, ein eigenes Bad sowie eine Kochnische. Die Miete: Hilfe in Haus und Garten. Im konkreten Fall heißt das Rasen mähen, staubsaugen, Fenster putzen und schwere Sachen heben. Bezahlen muss er nur die Nebenkosten: rund 100 Euro im Monat. Den Rahmen dafür steckt das Projekt “Wohnen für Hilfe” fest: Für jeden Quadratmeter Wohnraum gibt es als Gegenleistung eine Stunde Unterstützung im Alltag pro Monat. Pflegeleistungen sind ausgeschlossen.

Heike Bermond (links) und Sandra Wiegeler haben in Köln bereits über 600 Wohnpartnerschaften vermittelt

“Ich hatte Probleme mit den Füßen bekommen, obwohl ich die als Tanzkursleiterin doch brauche”, sagt Marianne Appolt. Um ihre Beine zu schonen, musste sie im wahrsten Sinne des Wortes kürzer treten. “Ich konnte meinen Garten nicht mehr versorgen. Dabei habe ich das immer alleine gemacht.” In der Kölner Kirchenzeitung las sie einen Artikel über die Initiative. “Mein Mann und meine Kinder sind nicht mehr im Haus. Platz gibt es hier also genug”, so die 83-Jährige.

Rund 80 derartiger Wohngemeinschaften entstehen in Köln pro Jahr. Größtenteils melden sich Senioren – obwohl das Projekt allen offensteht, die ein Zimmer zur Verfügung haben, sagt Sandra Wiegeler. Sie betreut das Projekt an der Universität zu Köln. Bedarf an leistbarem Wohnraum gäbe es in der Stadt auf alle Fälle. Auf 50.000 Studierende kämen gerade mal 4500 Plätze in Studentenwohnheimen, so die Pädagogin.

Damit das Zusammenleben der ungleichen Paare klappt, müsse man sich vertrauen, sagt Rentnerin Marianne Appolt. “Als ich angefangen habe, mich über dieses Projekt zu erkundigen, haben mir meine Freundinnen davon abgeraten.” Zumindest die Türen sollte sie immer abschließen. “Das hab ich aber nie gemacht. Wir waren uns auf Anhieb sympathisch.” Zum ersten Treffen nahm Baumgärtel noch seine Mutter mit. Wenige Tage später zog er ein. “Ich habe mich hier im Haus auf Anhieb richtig wohl gefühlt. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, in einem Einfamilienhaus. Zwischen meinem Zuhause und hier gibt es keinen großen Unterschied.”

Vermittlung ungleicher Paare

“Ich vergleiche das immer mit einer Partnervermittlung. In erster Linie muss die Chemie stimmen”, sagt Lilian Brandt lachend. Sie vermittelt Studierende der Universität Bonn. Mittlerweile gibt es “Wohnen für Hilfe” in über 30 deutschen Städten. Nach dem Erfolg in größeren Städten wie Köln fasst das Projekt jetzt auch in kleineren Städten Fuß.

Oliver Baumgärtel: Wohnen “wie zu Hause” statt überteuerter Mieten

Bevor es zwischen den Interessierten funken kann, sind aber erst noch einige organisatorische Dinge zu klären. Zuerst müssen detaillierte Fragebögen ausgefüllt werden, wo grundsätzliche Kriterien, wie Raucher oder Nichtraucher, Tierallergien oder die Fahrzeit zur Uni abgeklärt werden. Bei Hausbesuchen werden Wohnraum und Gastgeber unter die Lupe genommen. Danach sind Menschenkenntnisse gefragt. “Bei manchen weiß ich einfach sofort, dass es passt”, sagt Brandt.

Das finanzielle Interesse dürfe aber nie im Vordergrund stehen. “Ich mache den Studenten immer klar, dass das hier keine billige Zimmervermietung ist. Sie müssen bereit sein, ihre Freizeit mit diesen Menschen zu verbringen.”

Abhilfe gegen das Alleinsein

Viele schrecke das aber nicht ab. “Studienanfänger, die ohne Eltern in eine neue Stadt ziehen, suchen oft eine Familienanbindung”, sagt Brandt. Andere Studierende würden Karrieren im sozialen Bereich anstreben. Für sie sei die Erfahrung, mit hilfsbedürftigen Menschen zusammenzuleben, eine besondere Bereicherung.

Lilian Brandt: Viele ältere Menschen sind gut versorgt, aber einsam

Manche Gastgeber wiederum bräuchten eigentlich kaum Unterstützung im Alltag. Sie wollten einfach weniger alleine sein. Damit würden die Organisatoren immer häufiger konfrontiert werden. Das spiegelt sich auch darin wider, nach welcher Art von Hilfe gefragt wird. “Wir hatten schon einen, der jemanden zum gemeinsamen Musikantenstadl-Schauen suchte. Andere wollen Mensch-ärgere-dich-nicht spielen oder einfach regelmäßig mit jemandem spazieren gehen”, so Brandt.

Auch im Haushalt Appolt-Baumgärtel freut sich nicht nur der Garten über zusätzliche Aufmerksamkeit. “Ich bin achtfache Oma”, sagt Marianne Appolt. “Aber meine Enkelkinder sind über die ganze Welt verstreut. Oliver ist mein Ersatzenkel.”

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