Politik

Warum die UN ihre Prinzipien vergessen hat

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Interview mit Hillel Neuer, dem „meistgehassten Mann“ der UN

Vor 70 Jahren, am 10. Dezember 1948, wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von der UN-Generalversammlung verabschiedet. Das Dokument entstand als Antwort auf die die Gräuel des deutschen Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs. Die internationale Gemeinschaft wollte festhalten, dass sie so etwas nie wieder zulassen werde. Die gleichen Rechte aller Menschen wurden festgeschrieben und sollten von den Nationen der Welt anerkannt werden.

Eine Expertenkommission unter Vorsitz von Eleanor Roosevelt einigte sich auf das Dokument, das in 30 Artikeln die unantastbare Würde des Menschen zu sichern suchte. Ein Meilenstein in der Menschheitsgeschichte.

70 Jahre und zahlreiche Massenmorde später sitzen tausende politische Gefangene weltweit in den Gefängnissen, in mehr als 140 Staaten wird gefoltert. Doch der UN-Menschenrechtsrat erlaubt Regime als Mitglieder, die selbst systematisch schwerste Menschenrechtsverbrechen begehen. Dabei soll das Gremium eigentlich die weltweite Einhaltung der Menschenrechtserklärung beobachten und Verstöße verurteilen. Aktuelle Mitglieder sind u.a. Saudi-Arabien, China, Pakistan, Venezuela, Afghanistan und die Philippinen …

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Hillel Neuer ist Leiter der Organisation UN Watch. Seit 2004 dokumentiert er weltweite Menschenrechtsverbrechen und prangert das Versagen der UN öffentlichkeitswirksam an. Gemeinsam mit 25 anderen Menschenrechtsgruppen veranstaltet er jährlich die „Geneva Summit for Human Rights“ – eine Art Gegenveranstaltung zum Treffen des UN-Menschenrechtsrats in Genf.

Während bei den UN die Vertreter despotischer Regime tagen, bietet Neuer ihren Opfern eine Bühne und gibt Dissidenten von Kuba und Venezuela bis Vietnam und Saudi-Arabien eine Stimme.

Wie konnte es soweit kommen? Und was könnten Länder wie Deutschland noch tun, um das Blatt wieder zu wenden und die UN zu ihren Prinzipien zurückzuführen? BILD traf ihn zum Interview.

BILD: Warum ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte auch angesichts der weltweiten Lage noch immer ein wichtiges Dokument?

Hillel Neuer: „Über die Jahrzehnte sieht man immer wieder, wie Menschenrechtler in geschlossenen Gesellschaften wie beispielsweise in der ehemaligen Sowjetunion sich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte berufen. Sie hat eine gewisse Legitimität, denn es handelt sich um das erste Dokument dieser Art und um das erste internationale Instrument, das die Menschenrechte in den Fokus stellt und von fast allen Ländern dieser Welt unterzeichnet wurde. Zuvor ging es nur um Regierungen und die Beziehungen zwischen Regierungen, nicht um den einzelnen Menschen und seine Rechte. Das hat zu einem Paradigmenwechsel geführt.“

Also hat die Erklärung auch heute noch eine strahlende Kraft, über die UN hinaus?

Neuer: „Absolut. Man kann die Erklärung vielleicht hier und da kritisieren, aber sie steht für die richtigen Dinge und ist eines der meist übersetzten Dokumente der Welt. Das Problem ist die internationale Einhaltung. Am 10. Dezember sitzen überall auf der Welt in Ländern ohne Freiheit Menschen, die auf dieses Dokument schauen. Es ist eine Zeit, die ihnen eine moralische Verstärkung und Auftrieb gibt. Dieses Dokument ist ein Zeichen der Hoffnung für sie.“

Was ist passiert, warum ist die Umsetzung so misslungen? Aktuell sitzen im UN-Menschenrechtsrat Länder wie Saudi-Arabien, Venezuela und Pakistan …

Neuer: „Beim Verfassen der Allgemeinen Erklärung war Eleanor Roosevelt die Vorsitzende, René Cassin war ihr Vize und um den Tisch saßen Charles Malik aus dem Libanon, John Humphrey aus Kanada und P.C. Chang aus China. Alles idealistische Personen, die es Ernst meinten. Danach waren es nicht mehr Einzelpersonen, die in der Kommission saßen, sondern Regierungen. Und Regierungen – auch wenn sie demokratisch sind – haben ihre eigenen Interessen.“

Scheitern demokratische Länder, die selbst die Menschenrechte achten, in den UN also an ihren eigenen Interessen?

Neuer: „Regierungen sind an sich einfach nicht die besten Kräfte, um Menschenrechte weltweit durchzusetzen. Wir haben hier in Europa großartige Demokratien, aber wenn es darum geht, international mit Druck gegen Menschenrechtsverbrecher wie Iran, Saudi-Arabien oder China vorzugehen, dann gehen eigene Interessen vor. Heute sind mindestens die Hälfte der Mitgliedsländer im UN-Menschenrechtsrat Diktaturen. Sie sind nicht nur schlecht darin, Menschenrechte durchzusetzen, sie tun sogar das Gegenteil. Länder wie Kuba setzen alles daran, die Idee der Menschenrechte zu untergraben.“

Wie werden die Demokratien korrumpiert? Und was könnten sie konkret unternehmen, um die Korruption bei den UN einzudämmen?

Neuer: „Die Demokratien schweigen zum einen darüber, dass furchtbare Dinge bei den UN geschehen und zum anderen machen sie oft auch selbst mit. Aus verschiedenen Gründen. Es gibt zum Beispiel 56 islamische Nationen, die Resolutionen gegen Israel einbringen. Jedes Land will ihre Unterstützung. Kanada will in den Sicherheitsrat gewählt werden, sie wollen diese 56 Stimmen dafür zur Unterstützung. Also änderte Kanada sein Abstimmverhalten zu Gunsten dieser Länder und hat zudem angefangen, das Palästinenserhilfswerk UNRWA zu unterstützen, obwohl es dort schwerwiegende Probleme mit Antisemitismus und Terrorverherrlichung gibt.“

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Neuer: „Ja, denn langfristig erlaubt man so die Korruption der UN-Prinzipien, was am Ende auch Ländern wie Kanada und den EU-Ländern selbst schadet. Die UN werden nicht verschwinden, und sie existieren aus einem guten Grund, sie stehen für etwas. Im UN-Menschenrechtsrat müssten Mitglieder zum Beispiel ihre Menschenrechtsbilanz zeigen: Wer schwere Menschenrechtsverletzungen begangen hat, kann aus dem Rat entfernt werden – Artikel acht der Gründungscharta. Und dennoch: die größten Menschenrechtsverbrecher sitzen dort und niemand entfernt sie. Nur Libyens Diktator Gaddafi wurde einmal entfernt, ein einzigartiger Fall.“

Wäre auch ein struktureller Wandel nötig? Was könnte Deutschland mit den gegebenen Mitteln unternehmen?

Neuer: „Es geht nicht um die Reform der UN-Institutionen, das lenkt nur ab. Es geht darum, was man mit den vorhandenen Mitteln erreichen kann. Bei einer schlechten Resolution aufzustehen und Nein zu sagen. Die arabischen Staaten wollen nicht 20 Nein-Stimmen von den EU-Staaten bekommen, das ist ihnen peinlich. Wenn sie wüssten, dass die EU jedes Mal mit Nein stimmen würde, dann würden sie zum Beispiel ihre Resolutionen gegen Israel reduzieren.

Zudem könnte Deutschland jederzeit selbst gute Resolutionen einbringen zum Thema Unterdrückung von Frauen in Saudi-Arabien, oder für inhaftierte Journalisten in der Türkei, oder für buddhistische Mönche in Tibet oder für die eine Million Muslime, die mutmaßlich in Umerziehungslagern in der Xinjiang-Provinz in China sind. Aber wir sehen keine einzige dieser Aktivitäten, weder von Deutschland noch von anderen EU-Mitgliedsländern. Und wenn es doch mal eine Resolution gibt, ist sie normalerweise sehr mild. Unsere Demokratien könnten die UN theoretisch zu ihren Werten zurückbringen, aber sie müssten dafür ein moralisches Rückgrat beweisen.“

Wie steht es um das Korrektiv aus der Zivilgesellschaft, setzen Menschenrechtsorganisationen diesem Verfall etwas entgegen?

Neuer: „Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International haben in ihrer Geschichte hervorragende Leistungen vollbracht, aber viele haben sich gewandelt. Bei der Geneva Summit fokussieren wir uns auf Menschenrechtsverletzungen, bei denen klar ist, wer die Menschenrechte verletzt hat, wie zum Beispiel im Fall von Venezuela, wo die Regierung Leopoldo Lopez ins Gefängnis geworfen hat – also eine willkürliche Verhaftung eines demokratischen Oppositionsführers. Viele Menschenrechtsgruppe haben sich aber von diesem klassischen Modell entfernt.

Amnesty International setzte sich früher klar und deutlich für politische Gefangene ein, aber heute kämpft Amnesty International auch gegen Armut, wirtschaftliche und soziale Gleichberechtigung. Das sind valide Anliegen, die vielleicht sogar einige Wurzeln in der Allgemeinen Erklärung für Menschenrechte haben, aber wer ist der Täter bei wirtschaftlicher Ungerechtigkeit? Für viele Menschen ist der Schuldige dann der Kapitalismus, die westlichen Länder. Aber man kann nicht genau benennen, wer die Menschenrechtsverletzung verübt hat, wer das Opfer und was das Verbrechen ist.

Und somit entfernen sich viele Aktivitäten von Menschenrechtsgruppen heute von klassischen politischen und Bürgerrechten und hin zu sozialen und wirtschaftlichen Rechten. Der Kampf für Menschenrechte verschwimmt und man bewegt sich in einen Raum, in dem wirtschaftliche Modelle miteinander konkurrieren. Das sozialistische Modell verspricht, das Beste für die Menschen zu wollen, aber in Venezuela beispielsweise schadet es der Bevölkerung. Wenn sich Menschenrechtsgruppen für sozialistische Wirtschaftspolitik einsetzen, dann verwässert die Idee der Menschenrechte und ich denke, dass das ein Problem ist.“

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Was glauben Sie, warum sich Teile der Menschenrechtsbewegung so entwickelt haben?

Neuer: „Als Eleanor Roosevelt und René Cassin die Menschenrechtskommission aufgebaut haben, hatten sie eine große moralische Klarheit. Sie hatten gerade Hitler besiegt, Cassin an der Seite von de Gaulle, Eleanor Roosevelt an der ihres Ehemanns, dem US-Präsidenten, und sie sahen, dass man manchmal auch in den Krieg ziehen muss, um große Übel abzuwenden. Generell hatten sie eine gewissermaßen gemäßigte politische Haltung, die heute vielen Menschenrechtlern fehlt.

Einige der Menschenrechtsgruppen, die leider den heutigen Diskurs bestimmen, entstammen der Zeit des Kalten Krieges. Sie haben damals als anti-imperialistische Friedensgruppen angefangen und nach dem Ende der Sowjetunion zu Menschenrechtsgruppen umbenannt. Sie bewegen sich auch heute noch im weit linken politischen Spektrum und bei der Ideologie, die sie antreibt, geht es oft nicht nur um die Rechte des Individuums, sondern eben auch um Antiimperialismus und Antikapitalismus.

Es gibt oft ein anti-westliches Element. Diese Gruppen sind dann tendenziell leider stiller wenn es um Chavez geht oder um Maduro, und auch relativ still zu Kuba, weil es nicht in ihr Narrativ passt, wenn die Menschenrechtsverletzer sozialistische Regierungen sind.“

Wie äußert sich das im Zusammenhang mit den UN?

Neuer: „Bei den UN gibt es heute eine Allianz zwischen den schlimmsten Diktaturen, sei es China, Kuba, Iran und andere, die ein anti-westliches Narrativ vorantreiben. Und dann gibt es die NGOs im Westen, die dem zustimmen. Dadurch kommt es zu einer giftigen Überschneidung bei vielen Themen, sei es Israel – ein klassisches Beispiel, wo Menschenrechtsgruppen wie Amnesty die UN unterstützen.

Sie stehen bei diesem Thema also an der Seite von Diktaturen, die dutzende anti-israelischen Resolutionen einbringen. Es ist eine Mischung aus Weltsichten, die die ursprüngliche Idee der Menschenrechte und die Menschenrechtsbewegung korrumpiert haben.“

Eine Tendenz, die zur Gründung Ihrer Organisation durch Morris B. Abram geführt hat?

Neuer: „Morris B. Abram war ein junger jüdischer Anwalt aus Georgia, der nach dem Zweiten Weltkrieg Teil der Nürnberger Prozesse war, danach nach Georgia zurückkehrte. Dort wurde er angesichts der damaligen Rassentrennung schnell ein führender Anwalt für Menschen- und Bürgerrechte und eine führende Figur der Bürgerrechtsbewegung.

Er holte Martin Luther King Jr. zwei Mal aus dem Gefängnis, brachte ihn mit Kennedy zusammen. In den 1960er Jahren war er als Experte in einem UN-Komitee gegen Diskriminierung. Er brachte einen der Entwürfe ein, der letztlich die Grundlage der Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969) wurde. Am 13. Januar 1964 brachte er den Abram-Entwurf ein. Er sah, wie diese Welt der Menschenrechte korrumpiert wurde. Er war eine führende Stimme schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA und beobachtete wie die Bewegung sich Extremisten zuwandte und beispielsweise Malcolm X folgte statt des klassischen Modells für individuelle Menschenrechte.

Aber Abram veränderte sich nicht und fand sich in den 1970er Jahren entfremdet von dem Weg der Menschenrechtswelt. Ein anderes Beispiel ist Irwin Cotler, ehemals Justizminister Kanadas und Menschenrechtsanwalt. Er ist auf der Linken bei allen Themen, aber wenn er Menschenrechtsverbrechen in Venezuela sieht, dann spricht er sie an.“

Was hoffen Sie, wie wird es zum 80. Geburtstag der Menschenrechtserklärung um die UN bestellt sein? Und machen Sie so lange noch weiter, auch wenn sie als der „meistgehasste Mann der UN“ gelten?

Neuer: „Wir haben keine andere Wahl, auch wenn das weiterhin der Fall ist! Man weiß außerdem nie, wann sich in der Welt etwas ändert. Ich hoffe, dass die Opfer, die wir in unserer Menschenrechtsarbeit treffen, eines Tages den Platz einnehmen, den sie verdienen. So wie Vaclav Havel, der erst als Feind verfemt war und dann Präsident seines Landes wurde. Dasselbe passierte in Polen, in Südafrika. Ich hoffe, dass eines Tages Leopoldo Lopez und Antonio Ledezma die Regierungschefs von Venezuela sind. Und dass Raif Badawi für Saudi-Arabien im UN-Menschenrechtsrat sitzen wird, anstelle der Repräsentanten dieses mörderischen Regimes.“

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