Politik

Irre, wie gelassen die Briten auch jetzt noch bleiben

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Quelle: BILD / Philip Fabian
1:45 Min.

Tag zwei nach der niederschmetternden Abstimmungsniederlage für Premierministerin Theresa May und ihren Brexit-Plan. Die Uhr tickt, denn es droht der ungeordnete Austritt der Landes aus der EU! Die Deadline dafür – 29. März 2019 – rückt immer näher, doch Regierung und Parlament kommen nicht voran.

Entsprechend dramatisch die Katastrophen-Stimmung in der Politik und der hohe Pulsschlag bei den Medien. Alle wissen: Hier passiert Historisches mit unabsehbaren Folgen!

Und die Londoner? Gelassen wie immer! Der BILD-Stimmungs-Check:

• Ja, der harte Brexit wäre schlimm, sagt Dan, der mit seinem Freund Andy vor dem Pub bei kaltem Nieselregen Bier trinkt und raucht. Er ist bestens informiert, kennt Leute in der Politik und ist sich sicher: Der No-Deal-Brexit wird nicht passieren, weil die Mehrheit im Parlament das nicht will. Wie genau die Abgeordneten so kurz vor der Austritts-Deadline noch die Kurve kriegen werden, kann er auch nicht genau sagen – aber irgendwie wird das schon möglich werden. Motto: Abwarten und Tee trinken.

• Auch sein Freund Andy ist angesichts der Lage cool wie ein James Bond, der ohne Bremse auf den Abgrund zurast und dabei nicht einmal schwitzt. Ja, im Parlament herrsche Chaos, erklärt er. Das sei aber nur ein Beleg dafür, wie gut die Demokratie funktioniere, denn es spiegele die Verwirrung in der Bevölkerung ziemlich gut wider. Niemand wisse, was zu tun ist und was passieren wird, sagt er, und zuckt dabei lediglich mit der Schulter.

Die berühmte britische Gelassenheit – einfach verblüffend! Haben die Nachbarn auf der Insel den Sinn für die Realität verloren? Oder ist es die typisch englische Zurückhaltung, die dafür sorgt, dass Londoner ihre Emotionen so zurückhalten?

Gelassenheit trotz „Armageddon“

• Der harte Brexit sei „das Armageddon“, sagt der charmant lächelnde Robert (70), der im Opern-Management arbeitet und er werde wohl kommen. Also doch Panik? Nein. Angst? Auch nicht. „Ein bisschen besorgt vielleicht“, sagt er.

• Nur Robyn (42), die aus Südafrika stammt und heute Britin ist, gibt irgendwann zu, dass der Brexit sie sehr umtreibt. Denn bei ihr gab es darum sogar Streit in der Ehe. „Mein Mann glaubt, dass durch den Brexit die Immobilienpreise fallen werden, darum hat er 2016 dafür gestimmt, und ich war sehr enttäuscht“, erzählt sie. Jetzt werde das Thema zu Hause gemieden.

Augenrollen und Apathie

Ihre Angst sei mittlerweile der Apathie gewichen, sagt Jane (60), eine Uni-Dozentin. Sie nehme den ganzen Brexit-Zirkus, den sie von Anfang an vehement ablehnte, fatalistisch hin – zumal auch sie letztlich nicht sagen könne, was genau passieren wird. Jetzt heißt es nur noch: Wait and see. Was soll man denn sonst machen?

• Beim Thema Brexit empfinde er „unglaubliche Langeweile“, sagte William Gleeson noch vor der Abstimmung und rollte dabei die Augen, während er an seinem Brandy nippte. Dabei ist der affektierte, aber elegante Mann in Anzug, Manchettenknopfhemd und Krawatte politisch bestens informiert: Er kenne alle europäischen Verträge auswendig, ebenso wie das ganze parlamentarische Prozedere und die Argumente von Remainern und Brexiteers. Seine Position: „Wir müssen das ganze Thema einfach nur irgendwie hinter uns bringen.“

• Nein, die Briten sind nicht verrückt geworden, sagt auch der schottische Bauingenieur Willie, der eigentlich auch gerne in der EU bleiben würde. Ganz stoisch erklärt er, er bedaure, dass es wohl zum Worst-Case-Szenario kommt. Ebenso der spanisch-britische Student Iu Gran de Tena (19), der meint, mit der Zeit würden die Briten schon irgendwann merken, dass sich die Globalisierung nicht zurückdrehen lässt.

„No Deal, no problem“

Auf der Gegenseite sind die Anhänger des „harten Brexit“. Sie sind dieser Tage demonstrativ gelassen, stellen eine geradezu zynische Coolness zur Schau wie die Bösewichte in den James-Bond-Filmen. „No Deal, no problem“, steht auf ihren Demo-Plakaten vor dem Parlament. Selbst wenn sich der No-Deal-Brexit doch noch als problematisch erweisen würde, wäre es ihnen egal. Besser gesagt: Sie nehmen das Risiko aus ideologischen Gründen gerne in Kauf.

• „Die Remainers, die ein zweites Referendum fordern, sind bloß hysterisch, weil ihnen die Avocados ausgehen könnten“, höhnte Mahyar (30) im Pub unmittelbar nach Theresa Mays Klatsche am Dienstagabend. Für ihn ist der Brexit Synonym für „Freiheit“.

• BILD besuchte am Sonntag den konservativen Lord Peter Lilley in seinem Haus im Stadtteil Pimilco. Er ist einer der Stichwortgeber an die Hard-Brexit-Fraktion, veröffentlichte seine „Wahrheiten“ zum harten Brexit in mehreren Zeitungen. Er sagt, die Angst vor dem No-Deal-Brexit erinnere ihn an die Panik vor dem Millennium Bug zur Jahrtausendwende. Mit ein bisschen Vorbereitung werde sich am Ende herausstellen, dass alles gar nicht so schlimm war, beziehungsweise dass gar nichts passiert. Der französische Hafen-Chef von Calais zum Beispiel werde sicherstellen, dass es zu keinen Staus kommt, sagt Lord Lilley zu BILD. Und siehe da: Am Dienstagabend wiederholt Boris Johnson genau dies vor den Kameras der BBC.

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„Wenn Unternehmen gehen, kommen eben andere“

Martin (52) glaubt das auch. Der Mann im Schlüsseldienst- und Schuhreparaturladen habe seine spanischen Lieferanten schon gefragt, ob sie nach dem Brexit liefern können, und sie hätten gesagt: „No problemo“. Er räumt ein, dass es für Autohersteller, die auf Tausende
Einzelteile angewiesen sind, komplizierter sein wird, ihre Lieferkette sicherzustellen. Aber: „Wenn Unternehmen gehen, kommen eben andere“, sagt er. Und wenn doch nicht, auch egal. Jahrzehntelang habe er immer so gewählt und abgestimmt, wie es die politische Elite haben wollte, und damit sei er auch nicht gut gefahren. Jetzt geht es ihm beim Brexit vor allem darum, diesen Politikern eins auszuwischen, sagt der Trump-Enthusiast auf Cockney-Englisch, einer Mundart der Londoner Arbeiterklasse.

Die Briten seien einfach kein Volk, dass „Pläne“ macht, sagt auch ein ehemaliger Sprecher von UKIP, Gawain Towler (50), im Gespräch mit BILD. UKIP ist die populistische Partei, die maßgeblich seit Jahrzehnten unter dem damaligen Chef Nigel Farage den EU-Ausstieg vorangetrieben hatte. Towler selbst sieht UKIP heute kritisch und lässt die Parteiarbeit ruhen. Er räumt ein, dass dort die „autoritären Rechten“ das Kommando übernommen haben – trotzdem hat er sein Parteibuch aber behalten.

BILD gegenüber gibt er sogar offen zu, dass es bei den Brexiteers nie einen „Plan“ gegeben habe, wie der Brexit ablaufen solle. „Aber damit konnte man natürlich keine Kampagne machen“, sagt er. Die Spezialität der Briten sei Durchwurschteln. Das sei immer gut gegangen und werde es auch diesmal.

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