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Gewalt in der Pflege: “Ich kann meine Mutter nicht verdursten lassen”

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Wenn alte Menschen hilflos werden wie kleine Kinder, brauchen sie eine besonders gute Versorgung. Frank Schulz geht jeden Tag zu seiner Mutter ins Pflegeheim – er hat Angst, dass sie wieder austrocknet.

“Trink noch ein kleines Schlückchen”, Frank Schulz legt seiner Mutter Inge Schulz (Namen geändert) den Arm um die Schulter. Er hält ihr ein Glas Tee an die Lippen, sie trinkt. “Prima, das hast du toll gemacht”, lobt ihr Sohn. Frank Schulz neigt sich zum Ohr seiner Mutter, die blind und fast taub ist, unterhält sie mit Reimen aus Kindertagen: “Müllers Kuh, Müllers Esel, das bist …” “Du!” ergänzt die an Demenz erkrankte 86-Jährige. Ihr Sohn lacht und hebt das Glas: “Jetzt noch ein Schlückchen”. Dann singt er ihr ins Ohr: “Ein Vogel wollte Hochzeit machen in dem grünen Walde, fiderallala”. Inge Schulz klopft den Rhythmus mit und strahlt. “Sie ist heute gut drauf “, sagt er: “Dann wurde sie gut behandelt.”

Inge Schulz mag Kinder – mit Geschichten von früher, Reimen und Liedern bringt ihr Sohn sie immer wieder zum Lachen

Leider nicht selbstverständlich, das zeigen die der DW vorliegenden Arztberichte und Protokolle, in denen die Familie dokumentiert, was sie im Pflegeheim erlebt: Im August 2016 findet Frank Schulz seine Mutter zusammengesunken im Rollstuhl, nicht ansprechbar – “wie tot”. Der Pfleger will keinen Notdienst alarmieren: “Ihre Mutter will sich verabschieden.” Frank Schulz besteht darauf, einen Rettungswagen zu rufen. Inge Schulz kommt in die Klinik. Dort wird sie intravenös mit Flüssigkeit versorgt. Der Arzt diagnostiziert Austrocknung, eine “ausgeprägte Exsikkose”, heißt es im Bericht der Nothilfe-Ambulanz. Dazu der Hinweis: “Wir bitten ausdrücklich darum, auf ausreichend Flüssigkeitsangebot (Patientin ist blind!) zu achten.”

Genug getrunken? Nur auf dem Papier

Es ist kein Einzelfall: Immer wieder habe seine Mutter zu wenig getrunken, berichtet Frank Schulz. An einem Sonntag im April 2018 ist Inge Schulz wieder völlig apathisch, ein Mundwinkel hängt herab. Pflegekräfte wehren den Ruf nach einem Arzt ab: “Ihre Mutter ist müde.” Erst nach Stunden wird der Notarzt verständigt. Der Arzt in der Notaufnahme stellt eine Austrocknung fest: “deutliche Exsikkose mit stehenden Hautfalten und trockenen Schleimhäuten”. Laut Pflegedokumentation und Trinkprotokoll hatte Inge Schulz ausreichend getrunken. Das könne keinesfalls sein, habe der Arzt betont. Sein Bericht belegt: “Die Harnblase war fast leer.”

“Ich kann meine Mutter nicht verdursten lassen”, sagt Frank Schulz. Er vermutet, dass sie ohne ihn schon tot wäre

Schulz und seine Brüder haben mehrfach an den Träger des Pflegeheims geschrieben und Beschwerden an die Heimaufsichtsbehörde und den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) in Bayern gerichtet, der für die Prüfung von Pflegeheimen zuständig ist. Der MDK führte eine Prüfung im Heim durch. An diesem Tag, sagt Schulz, kümmerte man sich vorbildlich um seine Mutter – “eine Inszenierung”. Wie viele Beschwerden es über dieses Heim mit bis zu 150 Bewohnern gibt, will der MDK der DW nicht mitteilen – “aus datenschutzrechtlichen Gründen”. Angehörige finden im Internet die Pflegenote 1,2 (sehr gut). Solche Bestnoten haben die meisten Heime, das System ist umstritten. Viele Bewertungen basieren auf Angaben und Dokumentationen des Heims und den Befragungen einiger Bewohner, die sich noch äußern können. 2020 soll sich das Bewertungssystem ändern.

Daten zu Gewalt in der Pflege, wozu neben körperlichen und psychischen Misshandlungen auch Vernachlässigung zählt, sind schwer zu ermitteln. In einer Befragung von Pflegekräften in stationären Einrichtungen in Hessen gaben 72 Prozent der Teilnehmer an, innerhalb eines Jahres mindestens eine Misshandlung oder Vernachlässigung verübt zu haben.

Betriebsratsvorsitzender: “‘Wir sind unterbesetzt’, lasse ich nicht mehr gelten”

Die Söhne von Inge Schulz hatten damit gerechnet, dass die Heimleitung das Gespräch suchen und sich vielleicht entschuldigen würde. Stattdessen kam der Hinweis, die Familie solle sich ein anderes Heim suchen, wenn sie kein Vertrauen habe. Weil Schulz befürchtet, dass seine Mutter die Folgen ausbaden müsste, konnte die DW die Heimleitung und den Träger nicht direkt befragen. Aus Schreiben des Trägers, die der DW vorliegen, wird aber deutlich, dass man den dringlichen Wunsch der Familie nach einem Gespräch mit einem neutralen Dritten abwehrte. Das Heim wechseln will Familie Schulz nicht. In vielen Pflegeheimen der Umgebung sei die Situation nicht unbedingt besser, sagt Deutschlands bekanntester Pflegekritiker und Buchautor Claus Fussek der DW. Es gebe auch sehr gute Heime, doch bei ihm meldeten sich immer wieder Angehörige, deren Eltern nicht ausreichend versorgt werden.

“Die Heimbewohner sind die Ärmsten im System”, sagt ein Betriebsratsvorsitzender

Der Betriebsratsvorsitzende eines großen Heimträgers, der lange als Altenpfleger gearbeitet hat und anonym bleiben möchte, appelliert an die Pflegekräfte, “in Trinkprotokollen nur die tatsächlich konsumierte Menge einzutragen”. Es reiche eben nicht, hilflosen Bewohnern Getränke hinzustellen, man müsse sie ihnen anreichen. Die Personalnot in der Branche – es fehlen mehr als 22.000 Altenpfleger und Altenpflegehelfer – kennt der Betriebsrat, doch er stellt klar: “Die Ausreden ‘ich habe keine Zeit’ oder ‘wir sind unterbesetzt’, lasse ich nicht mehr gelten, da es wohl das Wichtigste im Leben ist, ausreichend Flüssigkeitszufuhr zu bekommen.” Beim MDK in Bayern gingen 2017 461 Beschwerden ein. In 97 Fällen ging es um Ernährung und Flüssigkeitsversorgung.

“Manchen Pflegekräften kann ich nicht vertrauen”

Familie Schulz ist darauf angewiesen, die taubblinde Mutter in der Nähe unterzubringen, um sie jeden Tag besuchen zu können. Im Heim kenne man seine Mutter, sagt Frank Schulz, und er kenne einige Pflegende, denen er vertraut. Ihnen dankt er immer wieder für ihren Einsatz. Der Heimleiter aber habe auf Kritik sehr aggressiv reagiert, berichtet Frank Schulz: Er habe ihn im Zimmer seiner Mutter angeschrien, ein Hausverbot gegen ihn verhängt und die Polizei gerufen. Das Hausverbot wurde sofort wieder aufgehoben. Die Polizei befragte die Angehörigen und leitete Ermittlungen gegen das Pflegeheim ein. Das Verfahren sei jetzt bei der Staatsanwaltschaft, teilte man Frank Schulz mit, die sei aber völlig überlastet. Das Aktenzeichen ist der DW bekannt.

Damit die Mutter ausreichend mit Nährstoffen versorgt ist, rührt Schulz einen Brei für sie an

Frank Schulz schaut jeden Tag in die Dokumentation, doch er verlässt sich nicht darauf: “Manchen Pflegekräften kann ich einfach nicht vertrauen.” Täglich gibt er seiner Mutter einen selbstgemachten Brei mit nährenden Zusätzen und vor dem Schlafengehen kleine Stücke Honigbrot. Er lässt sie trinken, zwischendurch aufstoßen – versorgt sie liebevoll. Heute ist das Glas erst nach einer halben Stunde leer, manchmal klappt es in zehn Minuten. Unbegrenzte Zeit für jeden Bewohner haben die Pflegekräfte nicht, das versteht Frank Schulz. Aber er erwartet menschenwürdige Pflege, in der zumindest die Grundbedürfnisse des Lebens erfüllt werden – essen, trinken und regelmäßige Toilettengänge: “Diese wehrlosen alten Menschen haben oft keine größeren Wünsche mehr.” 2000 Euro zahlt die Pflegekasse für den Heimplatz, knapp 2300 Euro beträgt der Eigenanteil der Bewohner.

Notdurft auf dem Fußboden

Frank Schulz drückt seine Mutter an sich und fragt mit warmer Stimme, ob sie zur Toilette muss. Vorher hat sie verneint, jetzt sagt sie klar und deutlich “Ja”. Er zieht sie auf die Füße und bringt sie ins Bad: “Halt dich schön fest an mir.” Seine Mutter sei nicht inkontinent, betont er. Doch sie müsse oft Urin und Kot in Inkontinenz-Einlagen machen, weil sie viel zu selten zur Toilette gebracht werde: “Wie beschämend ist das für unsere Gesellschaft, dass Menschen inkontinent gemacht werden, weil sie zwangsweise einkoten und einnässen müssen!”

Anfangs konnte Inge Schulz im Heim noch selbst aufstehen, aber nicht alleine zur Toilette gehen. “Weil keiner kam, hat sie vor allen Bewohnern ihre Notdurft verrichtet – auf dem Fußboden”, erinnert sich Frank Schulz, noch heute entsetzt. Bei anderen Bewohnern habe er ähnliches beobachtet. Sie flehten darum, zur Toilette gebracht zu werden – oft vergeblich. Einmal beobachtete er einen Altenpfleger, berichtet er, der zu einer Bewohnerin trat, die nach Kot riechend auf dem Flur saß. Der Mann habe Raumspray um sie herum gesprüht und sei wieder gegangen, statt sie sauber zu machen.

Täglich führen Frank Schulz und seine Brüder ihre Mutter mehrfach zur Toilette, um ihre Würde zu wahren

Weil seine Mutter sich nicht mehr selbst äußern kann, hat Frank Schulz über ihr Bett einen Zettel gehängt: “Bitte begegnen Sie mir mit Ruhe und Geduld. Leider bin ich taubblind und schwer dement, hilflos, somit auf Ihre Hilfe angewiesen. Vielen herzlichen Dank für Ihr Verständnis und die Arbeit, die Sie leisten!”

Heftige Schläge ins Gesicht

Auch Katrin Geerke hatte gehofft, dass ihre demente Mutter in einem Altenpflegeheim bei Bremen gut untergebracht und sicher sei. Doch ein Mitbewohner schlug Edith Brockmann eines Morgens so brutal ins Gesicht, dass sie behandelt werden musste. Die Tochter erfuhr das abends – durch eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Dabei hatte das Heim von ihr und ihrer Schwester, die in der Nähe wohnt, alle Telefonnummern, unter denen sie tagsüber zu erreichen sind. Bei finanziellen Fragen, sagt Geerke, habe man die immer genutzt. Nach dem Angriff auf die Mutter wurde die Schwester nicht informiert. Die Heimleitung schrieb in einem Brief, der der DW vorliegt, man habe sie um 16 Uhr im Altenheim gesprochen. Sie war an dem Nachmittag aber gar nicht dort.

Von einem Mitbewohner misshandelt: “Sie sagt ja auch immer Hallo”, kommentierte eine Altenpflegerin

Von Katrin Geerke alarmiert eilte sie am Abend besorgt ins Heim. Ihre Mutter saß allein auf dem Gang, in einem Stuhl hängend, “ganz erbärmlich, mit geschundenem Gesicht, Hämatomen an mehreren Stellen, Platzwunde, und diesem Schock, den sie erlebt hat”. Geerkes Schwester lief über drei Etagen, um eine Pflegekraft zu finden. Als sie schließlich eine Altenpflegerin traf, konnte die zum Gewaltakt gegen die Mutter nichts sagen. Sie äußerte kein Mitgefühl, sondern suchte Gründe für die Schläge ins Gesicht: “Ihre Mutter sagt ja auch immer ‘Hallo'”. Obwohl das mehr als drei Jahre her ist und die Mutter mittlerweile verstorben, kommen Katrin Geerke immer noch die Tränen, weil sie und ihre Schwester das Heim “so schlecht ausgesucht haben”.

Erst als ihre Mutter im Pflegeheim war, sei ihr klar geworden, “dass wir alle immer nur darüber diskutieren, wie schwer es für die dort Arbeitenden ist, wie wenig Geld sie verdienen und wie schrecklich diese ganze Arbeit ist”. Viel zu selten frage man, ob sie denn gute Arbeit leisteten für diejenigen, die sie pflegen.

Pflegekraft in der Nacht “wie ein Engel”

Frank Schulz wird weiter täglich ins Heim gehen, obwohl er schon einen gesundheitlichen Zusammenbruch hatte: “Ich kann meine Mutter nicht verdursten lassen.” Als er auf dem Rückweg von der Toilette singend einen Tanz mit ihr andeutet, blitzt kurz das alte Mutter-Sohn-Verhältnis auf: Inge Schulz zupft ihrem Sohn den Ärmel zurecht. Er lächelt, bringt sie zu Bett, streicht ihr über die Haare und betet mit ihr. Sie schläft schnell ein.

Guten Abend, gute Nacht: Frank Schulz bringt seine Mutter täglich ins Bett, er singt und betet mit ihr

Er selbst kann nur beruhigt schlafen, wenn eine bestimmte Altenpflegerin den Nachtdienst übernimmt. Obwohl sie nachts mit zwei Kolleginnen für bis zu 150 Bewohner zuständig ist, sorge diese Frau dafür, dass seine Mutter weitere Getränke und Speisen erhalte. “Sie reibt Bewohner mit Eukalyptus ein oder massiert ihnen die Füße”, berichtet Frank Schulz bewundernd: “Sie ist wie ein Engel.”

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