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Lernen Schüler Schreiben nach Gehör, müssen Eltern nicht sofort in Panik verfallen – solange dies nur der erste Schritt beim Schreibenlernen ist. Ein Kommentar.

Schreiben können. Die bundesweit geltenden Bildungsstandards verlangen, dass Schülerinnen und Schüler Rechtschreibprinzipien…

Meen fadda fert rat – so könnte es aussehen, wenn Berliner Schüler nach Gehör Schreiben lernen. Auf einer Anlauttabelle suchen die Erstklässler das jeweilige Bild zum F-Laut (etwa eine Feder), das zum entsprechendem Buchstaben hinführt, dem F. Fehler markieren die Lehrkräfte nicht. Sie wollen die Kinder beim „freien Schreiben“ nicht demotivieren. „Schreiben nach Gehör“ heißt diese vom Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen entwickelte Methode. Seit den achtziger Jahren propagierte er sie auch in Deutschland und wandte sie an der Hamburger Schule, an der er Lehrer war, selbst an. Statt die Rechtschreibung mühselig zu pauken, sollten die Schüler sie sich selbst erschließen. Dabei sollte es sie beflügeln, dass sie mittels der Anlauttabelle schon früh in der Lage sind, Texte zu verfassen.

Eine neue Studie attestiert der Reichen-Methode schlechte Ergebnisse

Reichens Gedanken gewannen unter Lehrkräften durchaus Sympathien. Darüber, wie wirksam die Methode gegenüber herkömmlichen Verfahren ist, lieferten Studien widersprüchliche Ergebnisse – und die Meinungen über deren Aussagekraft gingen auseinander. Nun veröffentlicht ein Bonner Psychologenteam neue Erkenntnisse. Es beobachtete den Lernfortschritt von 3000 Kindern von der Einschulung bis zur vierten Klasse: Schüler, die nach der Reichen-Methode unterrichtet wurden, machten am Ende der vierten Klasse im Schnitt 55 Prozent mehr Rechtschreibfehler in Diktaten als solche, die nach herkömmlichen Prinzipien unterrichtet wurden.

Eltern könnte die neue Studie beunruhigen. Lernt das Kind etwa erst in der Oberschule, wie man richtig schreibt – oder vielleicht nie? Wendet eine Lehrkraft die Reichen-Methode an, ist ein Gespräch mit der Lehrkraft wohl angebracht.

Schreiben nach Gehör dürfte nur selten in Reinform unterrichtet werden

Allerdings: Wie viele Eltern werden so ein Gespräch tatsächlich führen müssen? Vermutlich nur wenige. Statistiken über die Verbreitung von Reichen existieren nicht, nach einer Schätzung der Pädagogischen Hochschule Heidelberg könnten in Baden-Württemberg fünf Prozent der Lehrer die Methode in Reinform anwenden. Die allermeisten Lehrkräfte kennen die Schwächen der Methode jedoch. Etwa, dass sie Kindern aus bildungsfernen Familien das Schreibenlernen noch schwerer macht.

In den Schulen hat sich deshalb längst ein Methodenmix etabliert. Keineswegs muss es Eltern beunruhigen, wenn das Kind mit der Anlauttabelle nach Hause kommt. In den ersten Monaten ist sie hilfreich. Bald müssen Erstklässler aber lernen, dass die Verhältnisse komplizierter sind, der F-Laut eben auch in „Vater“ vorkommt.

Die bundesweit geltenden Bildungsstandards schließen die Reichen-Methode in Reinform ohnehin aus. Sie verlangen, dass Viertklässler „orthographische und morphematische Regelungen“ beherrschen. Die Rechtschreibung ist komplex. Da dies allgemein erkannt wurde, droht Schülern von Reichen nur selten Gefahr.

Viel eher ist im Auge zu behalten, ob die vielen Quereinsteiger unter den Lehrkräften auf die schwierige Aufgabe der Alphabetisierung von Erstklässlern gut vorbereitet werden.

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