Wissen und Technik

Das Vermächtnis Sigismunds und Radegundes

0

Monumente von Dauer: Im frühen Mittelalter entstand das europäische Stiftungswesen. Beispielhaft dafür stehen die Stiftungen Sigismunds und Radegundes aus dem 6. Jahrhundert.

Verzicht auf Herrschaft und Eigentum. Die thüringische Königstochter Radegunde setzte in dem von ihr gestifteten Kloster eine…

Die Zeit der Stiftungen, so heißt es oft, hat erst mit dem Christentum begonnen. Das trifft zweifellos nicht zu: Stiftungen gibt es schon seit etwa 5000 Jahren. Großes Gewicht erlangten sie erstmals im Alten Ägypten. Dort brachten sie im dritten vorchristlichen Jahrtausend mit dem Totenkult für die Pharaonen und ihre Beamten geradezu den Staat und die Wirtschaft als weitgreifende Ordnungen der Gesellschaft hervor.

Sicher ist allerdings, dass das Christentum mit seinen besonderen Strukturen gute Voraussetzungen für Stiftungen geschaffen hat, wie wir sie bis heute kennen. Privaten Spendern hatten die christlichen Gemeinden schon unter heidnischen römischen Kaisern ihr bescheidenes Immobiliarvermögen verdankt – Versammlungslokale und Friedhöfe.

Auf gleiche Wohltaten der Vermögenden blieb die Kirche auch nach Konstantin dem Großen angewiesen. Das Kirchengut war prinzipiell vom Fiskalbesitz getrennt, was die welthistorisch epochale Trennung von geistlicher und weltlicher Sphäre begründete.

Die Stiftung von Klöstern stimulierte die Idee der Stiftung

Nach der überkommenen – man muss hinzufügen: deutschen – rechtshistorischen Lehre wurden Stiftungen dadurch geschaffen, dass ein Spender ein wirtschaftliches Gut für einen dauernden Zweck zur Verfügung stellte, das unangreifbar war und sich sozusagen selbst gehörte. Die Ausstattungsgüter mussten also auf Dauer erhalten bleiben. Der Stiftungszweck durfte nur durch deren Erträge realisiert werden.

Im Spannungsfeld der kirchlichen Hierarchie und mächtiger weltlicher Herren hätten sich die Stiftungen indes wenigstens in der Frühzeit des Mittelalters kaum nur unter Berufung auf den Willen ihrer Stifter behaupten können. Ihnen kam aber eine Bewegung entgegen, der man im Sinne von Max Weber eine ‚Wahlverwandtschaft‘ zuschreiben kann, die also ebenso wie sie selbst auf genossenschaftliche Selbsterhaltung setzte. Das waren die Mönche oder Nonnen, genauer die Klostergemeinschaften. Die Stiftung von Klöstern und geistlichen Gemeinschaften transportierte und stimulierte so die Idee und Praxis der Stiftung im Mittelalter.

Das christliche Mönchtum: eine Erfindung des Orients

Das christliche Mönchtum war eine Erfindung des Orients. In Ägypten waren seit dem 3. Jahrhundert rigoros denkende Asketen unter Verzicht auf jeglichen Besitz, persönliche Bindungen und sogar die Teilnahme am Gemeindeleben der Kirche in die Wüste gezogen, um sich in völliger Freiheit und Einsamkeit Kontemplation und Gebet hinzugeben. Ins westliche Europa verbreiteten sich Mönchtum und Klöster unter anderem über das Mittelmeer und die Rhône seit dem frühen 5. Jahrhundert.

Zwei der ältesten Klosterstiftungen der westlichen Kirche stammen aus dem 6. Jahrhundert. Es handelt sich um exemplarische Fälle. Sie sind durchaus berühmt, ihre paradigmatische und epochale Bedeutung für die Idee der Stiftung wird aber noch immer verkannt. Schauplätze sind das kurzlebige Reich der Burgunder in Savoyen und das merowingische Frankenreich, das sich jenes einverleiben und zur Grundlage des karolingischen Großreiches werden sollte.

Das burgundische Kloster war Saint-Maurice d’Agaune nahe beim Zufluss der Rhône in den Genfer See. Anfang des 6. Jahrhunderts waren die Burgunder noch Arianer, zwar Christen also, aber Gegner der römischen Kirche. Einer ihrer Könige namens Sigismund war gerade zum Katholizismus konvertiert, als er im Jahr 515 das Kloster an der Pass-Straße und Märtyrergedenkstätte stiftete. Sigismund konnte mehrere Bischöfe und Äbte für sein Vorhaben gewinnen. Er sicherte das Kloster also bei der kirchlichen Hierarchie ab, stattete es ferner mit liturgischem Gerät und Liegenschaften aus und holte Mönche aus verschiedenen älteren Klöstern herbei.

Eine Aufgabe: Die Schuld des Herrschers sühnen

Bei der Gründung wurde den Brüdern eine besondere liturgische Pflicht auferlegt. Sie sollten die Psalmen täglich ohne Unterbrechung singen. Die Forschung spricht von der laus perennis, einem ewigen Lobgesang zur Ehre Gottes und sicher auch der römischen Glaubenszeugen. Die liturgische Praxis des burgundischen Klosters weist Sigismunds Gründung in herausragender Weise als Stiftung aus, denn die Dauer – hier der ununterbrochene Gesang – ist eines der wichtigsten Kennzeichen von Stiftungen überhaupt.

Eine der Quellen legt nahe, dass Sigismund die Mönche von Saint-Maurice erst wegen eines Verbrechens zum dauernden Psalmengesang verpflichtet hätte. Das Kloster hätte dann auch die Aufgabe gehabt, die Schuld des Herrschers zu sühnen. Anlass sei gewesen, dass Sigismund unter dem Einfluss seiner zweiten Gemahlin einen Sohn aus erster Ehe mit eigenen Händen erwürgte.

Nachdem ihn die Merowinger kurz darauf militärisch überwunden hatten, wurde er selbst mit der Frau und seinen anderen Söhnen von den mächtigen Nachbarn aus dem Norden umgebracht. Das Modell der laus perennis indes wurde an vielen Orten des Merowingerreiches nachgeahmt, besonders von königlichen Klostergründungen. Überall entsprach die Aufgabe eines ständigen, Tag und Nacht vollzogenen Gotteslobs, zu der die Verpflichtung zum Totengedenken kam, der Selbstbehauptungstendenz von Klostergemeinschaften ebenso wie dem auf Dauer angelegten Auftrag der Stifter.

Die Gründerin: Radegunde, eine entführte Prinzessin

Auch bei der zweiten Klostergründung kann man den Stiftungscharakter ohne Rücksicht auf die besonderen historischen Umstände nicht würdigen. Es geht um das vielleicht zweitälteste Nonnenkloster des Westens, ebenfalls von königlicher Hand. Gründerin war eine aus Thüringen entführte Prinzessin namens Radegunde, die die fünfte Ehefrau des Merowingers Chlothar I. wurde. Sie wurde Christin, aber nach zehnjähriger, offenbar kinderloser Ehe verließ sie ihren Gemahl, vermutlich aus Verbitterung über die Ermordung ihres Bruders. Radegunde entschied sich für eine geistliche Existenz.

Um 555/560 schuf sie ihr größtes Werk, ein Frauenkloster in Poitiers. Für die Gründung besorgte sich Radegunde die Regel des normsetzenden Nonnenklosters an der Mittelmeerküste östlich von Marseille. Mithilfe dieser Vorschriften wollte sie den Frauen, die vorwiegend sicher aus adligen Kreisen stammten, elementare, aber noch neue Gedanken einschärfen. Der Klostereintritt war unwiderruflich, die Rückkehr ins weltliche Leben also ausgeschlossen. Die Neuchristin verschaffte ihrem Haus ein kaum zu übertreffendes Glaubenspfand, indem sie den Kaiser in Konstantinopel dafür gewann, ihr einen Partikel vom Kreuz Christi zu überlassen.

Das Frauenkloster in Poitiers: ihr größtes Werk

In einem bestens überlieferten Rechtsdokument hat Radegunde selbst unmissverständlich festgehalten, dass ihre Klostergründung mit Zustimmung und vor allem durch die materielle Ausstattung ihres ehemaligen Gemahls bewerkstelligt werden konnte. Die Selbstständigkeit der neuen geistlichen Gemeinschaft suchte sie dadurch abzusichern, dass sie das Wohlwollen und den Schutz der Bischöfe gewann, die kirchenrechtlich eigentlich Anspruch auf Herrschaft über das Kloster erheben konnten; vor allem aber schrieb sie sich selbst eine singuläre Position in ihrem Kloster zu.

Radegunde trat nämlich in das Kloster ein und bestellte eine mit ihr nicht verwandte Schwester namens Agnes zur Äbtissin, der sie selbst als einfache Nonne untertan sein wollte. Die Übertragung von Eigentum als verlorenes materielles Substrat verbunden mit dem Herrschaftsverzicht gilt in der Forschung zu Recht als herausragendes Indiz einer Stiftung. Mit der Einsetzung der Agnes als Leiterin und der Einführung der Klosterregel hatte Radegunde Vorsorge dafür getroffen, dass das Kloster nach ihrem Tod nicht führungslos werden und seine Selbstständigkeit durch die allfällige Neuwahl einer Äbtissin durch den Konvent behaupten könnte.

Radegunde und Sigismund schufen Monumente der Dauer

Radegundes Werk war ähnlich wie das des Burgunders Sigismund knapp fünfzig Jahre zuvor der Versuch einer königlichen Person, in einer äußerst unübersichtlichen, wenn nicht instabilen politischen Lage ein Monument der Dauer zu errichten. Für die thüringische Königstochter, die in der Fremde ohne jeden Verwandten leben musste und auch von der Familie ihres geschiedenen Mannes nichts dergleichen erwarten konnte, musste die monastische Gemeinschaft zu ihrem Gedenken einen Ausweg vor dem drohenden Vergessen darstellen. Eine so radikale Freiheit gegen die Ambition der Abstammungsstolzen und Herrschaftsgewohnten wurde nie wieder gewagt wie durch Radegunde.

Stiftungen sind fragile Gebilde. Oft konnten von ihnen getragene Einrichtungen oder Personengemeinschaften sogar nur überleben, wenn sie ihre Selbstständigkeit aufgaben und sich doch der Herrschaft eines Königs oder Bischofs einfügten. Die Klöster mit ihren betenden Nonnen und Mönchen versprachen, auch wenn sie fremden Herren unterstanden, einen dauernden Bestand, der vor allem jenen Stifterinnen und Stiftern entgegenkam, die sich die Fürbitte im Leben und besonders nach dem Tod durch die Gottgeweihten erhofften.

Totenmemoria als spezielle liturgische Leistung gerade während der Zeit der jenseitigen Ungewissheit bis zum Gottesgericht war deshalb das stabilste Motiv zur Errichtung von Stiftungen. Es war dieser Beweggrund, die die Stiftungen für ein Kloster zu den wichtigsten Verfügungen ihrer Art im lateinchristlichen Europa, im sogenannten Mittelalter, gemacht haben.

– Der Autor ist Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Humboldt-Universität. Der Text basiert auf seiner unlängst gehaltenen Abschiedsvorlesung. Mit der Personalnummer 00004 ist Borgolte der letzte Professor der „Gründungsgeneration“ der HU nach der Wende, der aus dem Amt scheidet. Im Rahmen eines bis 2017 laufenden Stipendiums des Europäischen Forschungsrats erforschen Borgolte und Kollegen im Projekt „Foundmed“ Stiftungen in mittelalterlichen Gesellschaften.

– Lesen Sie hier mehr zu geisteswissenschaftlichen Themen.

Am liebsten essen die Deutschen immer noch Fleisch

Previous article

Das blaue Wunder

Next article

You may also like

Comments

Leave a reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert