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“250 Fans wollen mich töten”: Das skandalöse Finale des Superclásico

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Obwohl die Reise unglaublich teuer ist: Viele Fans von Boca Juniors feiern schon am Samstag in Madrid.

Von Viktor Coco und Roland Peters, Buenos Aires


Die argentinischen Großklubs Boca Juniors und River Plate spielen um den wichtigsten südamerikanischen Vereinstitel – in Spaniens Hauptstadt Madrid. Weil das System Fußball in ihrer Heimat versagt.

10.000 Kilometer. Die stolzen Argentinier müssen weit reisen, um das wichtigste Spiel ihrer Klubfußballgeschichte live im Stadion zu erleben. Boca Juniors gegen River Plate. Das Superclásico-Finale, der historische Höhepunkt des wichtigsten südamerikanischen Vereinspokals, endet vor großer Kulisse im Estadio Bernabéu und damit in höchsten Ehren. Aber, nach den Ausschreitungen und der Spielabsage vor zwei Wochen in Buenos Aires, auch in historischer Peinlichkeit. Das Bernabéu ist die Heimstätte von Real Madrid. Abgeschlossen ist der Fall damit nicht.

Copa Libertadores, so heißt die Champions League des völlig fußballvernarrten Kontinents. Doch nun wird der Titel der lateinamerikanischen Befreier wie Simón Bolívar und José de San Martín im Land der einstigen Unterdrücker ausgespielt. Ist die Copa Conquistadores, der Pokal der Eroberer, nun sicherer für Fans und Mannschaften? Im Sinne des Fußballs? Oder ist alles nur Gemauschel und Geldmacherei durch den südamerikanischen Verband Conmebol, der von vielen Seiten wegen undurchsichtiger Entscheidungen kritisiert wird? Es gibt auf diese Fragen viele mögliche Antworten.

"Große Schmach"

Rivers Präsident Rodolfo D'Onofrio nannte die Entscheidung über den neuen Spielort in Spanien "die große Schmach des argentinischen Fußballs" und wies erneut jegliche Schuld für die Gewalt in Buenos Aires von sich: "Wir sind kein bisschen verantwortlich", das hätten auch die Sicherheitsbehörden bestätigt, erklärte er "El País". Trotzdem sagten "200 bis 250 Boca-Fans, dass sie mich töten wollen." Bocas Präsident Daniel Angelici reichte noch am Freitag einen Antrag beim Internationalen Sportgerichtshof Cas ein, den Copa-Titel zugesprochen zu bekommen. Der Cas lehnte vorläufig ab, das Spiel findet also statt.

Die Conmebol hat seine größte Attraktion, vielleicht die einzige von weltweiter Strahlkraft, also für viel Geld in europäische Obhut gegeben, auch wenn Verbandschef Alejandro Domínguez sagte, die Conmebol wolle an der Austragung nichts verdienen. Ob das im Großen und Ganzen sicherer ist, muss dahingestellt bleiben, aber das Szenario im Bernabéu ist ein ganz anderes.

40.000 Tickets im Ausland verkauft

Das Stadion wird akribisch bewacht.

Zum Rückspiel des Finals – das Hinspiel endete 2:2, die Auswärtstorregel gilt nicht -, eigentlich vor 66.000 Fans von River Plate im heimischen Estadio Monumental geplant, dürfen nun Anhänger beider Mannschaften kommen. Nur je 5000 Eintrittskarten gingen über Boca und River in Argentinien in den Verkauf, es blieben einige übrig. 40.000 Tickets verkaufte die Conmebol ins Ausland. In Zeiten der Wirtschaftskrise und Inflation können sich nur die wenigsten Argentinier einen Abstecher ins teure Europa leisten. Die günstigsten Tickets in Madrid kosten so viel wie die teuersten in Argentinien: 80 Euro. 22.000 Tickets gehen an Verbandssponsoren, Funktionäre und Real-Fans, für die solche Preise ein Schnäppchen sind.

Das Argument für die Verlegung bleibt die Sicherheit von Mannschaften und Fans. Doch die berüchtigten Barras dürfen offiziell ohnehin nicht ins Stadion, auch wenn die spanische Polizei davon redet, dass sie 400 bis 500 der berüchtigten Anhänger erwarte und man "null Toleranz" walten lassen werde. Madrid schickt dafür 4000 Beamte auf die Straßen, mehr als bei den großen Duellen zwischen Real und dem FC Barcelona.

Gegenseitig live erlebt haben sich die Anhänger der beiden Klubs schon seit Jahren nicht mehr. Wegen Ausschreitungen sind seit dem Jahr 2013 Gäste in nationalen argentinischen Wettbewerben verboten. In Madrid nicht. Es ist nicht wirklich aufzulösen, wie viel von diesem Szenario Angstmacherei ist, und wie viel bloß eine Rechtfertigung dafür, sich nicht akut mit den Problemen in Südamerika auseinandersetzen zu müssen.

Korruption und Transparenz

Alejandro Domínguez kündigte mehr Transparenz an.

Vielfach stand die Conmebol in den vergangenen Jahren innerhalb der Fifa in der Kritik: als Ort des Schwelbrands aus zwielichtigen Geschäften, der auf den Weltverband übergriff. Drei der vier letzten Conmebol-Präsidenten wurden wegen Veruntreuung und Korruption verurteilt. Nirgendwo weltweit war der Sumpf von Sponsoren, Fernsehgeldern und Fußballfunktionären tiefer als in Südamerika. Dann, im Jahr 2016, wollte der Paraguayer Alejandro Domínguez als neu gewählter Präsident den Verband umkrempeln. Der Sohn des Tabak- und Fußballzaren Osvaldo Domínguez Dibb wurde zwar von seinem Vater bereits als junger Mann in die Welt der Fußballfunktionäre eingeführt. Aber, und das ist nicht selbstverständlich in der südamerikanischen Fußballwelt, er kam mit nahezu weißer Weste. Domínguez kündigte ein Zeitalter der Transparenz an.

Der Personalwechsel an der Spitze schien Früchte zu tragen. Am opulenten Verbandssitz in Paraguay bauten die Neuen erst einmal symbolträchtig ein Fußballfeld. Entscheidend sollte wieder das Geschehen auf dem Platz werden. Dazu besetzte man Stellen neu und Prozesse, wie die Vergabe der TV-Rechte, wurden transparenter. Auch Marketing und Organisation der Copa Libertadores, die nun nach dem Vorbild der europäischen Champions League den Verbandsnamen trug, wurden professioneller. Professioneller, das hieß bei der Conmebol bereits, dass Spielansetzungen mit mehreren Wochen Vorlauf fixiert wurden.

Der blinde Galopp zur Verfolgung des längst enteilten europäischen Vorbilds nahm der Copa Libertadores aber auch Teile ihrer Identität. Das Finale etwa soll ab 2019 in einem einzelnen Spiel und an neutralem Austragungsort ausgetragen werden. Das macht manchen Fan auf dem Kontinent, wo die Kaufkraft geringer und die Reisedistanzen größer sind, wütend. Die Conmebol, die mit der Ungleichheit bei Hin- und Rückspiel argumentierte, aber die Entscheidung hinter vorgehaltener Hand wohl auch wegen der lukrativeren Vermarktung eines "final única" getroffen hatte, sieht sich nach den Ausschreitungen im Rahmen des Finalrückspiels bei River Plate zusätzlich bestätigt. Im Zuge der Modernisierung änderte man auch die Ermittlung der Achtelfinalpaarungen. Früher standen die Gegner nach dem Prinzip bester Gruppenerster gegen schwächster Gruppenzweiter fest. Von nun an wurde ausgelost.

Produkt Copa glänzt wie nie zuvor

Aus Sicht vieler Fans abseits der Boca Juniors begann die Ungerechtigkeit im aktuellen Turnier bereits zum Ende der Vorrunde. Unter den letzten 16 Teams standen 14 ehemalige Titelträger, allesamt mit fanatischen Anhängerschaften, davon ein halbes Dutzend mit realen Chancen auf den Titel. Das Produkt Copa Libertadores glänzte wie nie zuvor. Nur der Außenseiter Libertad aus Paraguay fiel aus diesem Rahmen. Vor der Achtelfinalauslosung witzelten Fans von Kolumbien bis Chile, dass die Conmebol wohl Boca Juniors, das schönste und bekannteste Pferd im Stall, in seiner sportlichen Findungsphase nach der langen WM-Pause mit diesem Gegner schonen würde. Die Blaugelben bekamen Libertad tatsächlich zugelost und erreichten ohne Schwierigkeiten die nächste Runde.

Carlos Tevez sagt, der Conmebol seien "drei Verrückte an einem Schreibtisch, die keine Ahnung haben".

Im Achtelfinale wurde der Unmut über die Conmebol noch lauter. So hatte Bocas Mittelstürmer Ramón Ábila im Hinspiel den ersten Treffer erzielt, wurde aber beim Rückspiel in Paraguay überraschend kurzfristig aus dem Kader gestrichen. Ábila war nämlich nicht spielberechtigt. Zumindest vermutete Boca das und handelte vorsorglich. Nach einer roten Karte 2015 hing ihm eine Sperre von drei Spielen nach, die im Zuge der "Güte zum 100. Verbandsjubiläum" 2016 von der Conmebol halbiert wurde. Aus 1,5 Spielen wurde südamerikanisch gerundet eine Sperre von einem Spiel, die er aber in der gesamten Vorrunde für Boca Juniors und auch in elf weiteren internationalen Begegnungen zuvor nicht abgesessen hatte. Sowohl der Verband als auch der gesamte Kontinent hatten es einfach verpennt. Boca regierte eigenhändig, weil auch bei anderen Teams ältere Sperren ans Licht gekommen waren.

Zum fußballerischen Politikum wurde die Angelegenheit, weil der Achtelfinalgegner des brasilianischen FC Santos in einem ähnlichen Fall fristgerecht Einspruch einlegte. Nach sechstägiger Beratung gab die Conmebol am Vormittag des Rückspiels bekannt, dass das Hinspiel gegen die Brasilianer gewertet würde. Die Fans waren außer sich vor Wut, und nach der Partie kam es zu Ausschreitungen. Der Verband war ins Straucheln geraten und die Conmebol waren wieder "drei Verrückte an einem Schreibtisch, die keine Ahnung haben", wie Boca-Stürmer Carlos Tévez es zuletzt beschrieb. Bei den Fans blieb hängen: Die Conmebol misst mit zweierlei Maß – die einen dürfen einfach weiterspielen, andere werden bei gleichem Vergehen aus dem Turnier geworfen.

Gescheitertes Krisenmanagement

Auch die Fans von River Plate sind in der spanischen Hauptstadt angekommen.

Das gescheiterte Krisenmanagement um das Finalrückspiel vor zwei Wochen verstärkte dieses Gefühl dramatisch. Hinter verschlossener Tür wurde am 24. November zweimal der Anstoß um ein paar Stunden verschoben, schließlich das Spiel für den Folgetag neu angesetzt, um es schließlich kurz vor dem Anpfiff auf unbestimmte Zeit abzusagen. Wer dabei wie viel Einfluss hatte, ist kaum zu rekonstruieren. Sicher ist: Boca Juniors' Präsident Daniel Angelici hat gewichtigen Einfluss auf den Verband. Beim intimen Conmebol-Council Treffen im April dieses Jahres in Buenos Aires etwa ging er ein und aus, obwohl er für ein offizielles Amt innerhalb der "neuen" Conmebol die hauseigene Ethikprüfung nicht bestanden hatte.

Wo sollte das Spiel nun stattfinden? Domínguez und seine Schattenmänner waren zu einer schnellen Entscheidung gedrängt. Eine Neuansetzung in Argentinien kam offenbar nicht infrage. Belo Horizonte, Miami oder Katar waren nur drei der Spielortskandidaten, die durch die Presse gingen. Aber die Brücke nach Europa war über Fifa-Chef Gianni Infantino geschlagen, wie Conmebol-Präsident Domínguez später bestätigte. Dies war der Moment, als die Trophäe den südamerikanischen Fans und ihren Unabhängigkeitshelden entglitt – und zur Trophäe der Konquistadoren wurde. Den TV-Rechteinhabern kam entgegen, dass sie mit der Austragung in Madrid das europäische Interesse an der Partie vergrößerten. Der Conmebol blieb das Argument der kulturellen Nähe und der vielen Argentinier in Spanien.

Keine Schuld, trotzdem der Vorteile beraubt

Völlig unter ging, dass die Conmebol selbst erklärte, dass der Grund für die Spielverlegung, der Angriff der vermeintlichen River-Fans auf Bocas Mannschaftsbus, fernab vom Stadion und somit außerhalb der Verantwortung des Vereins stattgefunden hatte. Das Heimrecht verlor River Plate trotzdem. Warum, kann keiner so richtig erklären. Der Klub muss nun vor gemischtem Publikum antreten. Umziehen muss sich die Mannschaft in Reals Gästekabinen. Auch wenn das Zufall sein sollte, eine symbolträchtige Demütigung ist es in jedem Fall. River trägt als Klub also keine Schuld, aber fast alle negativen Konsequenzen.

Zumindest öffentlich sieht Rivers Präsident die Fehler nicht bei der Conmebol. Der Verband habe zu seiner Entscheidung einer Spielverlegung ins Ausland "jedes Recht", sagte er "El País". Es geht ihm eher um die argentinischen Ursachen. Die Vorkommnisse von vor zwei Wochen sollten "das 9/11 Argentiniens" sein, erklärte er polemisch: Die Verflechtungen des mafiösen Fußballs mit der Politik müssten durchschnitten werden. Der Ball liege bei der Regierung. Zunächst wird er jedoch rollen. Am heutigen Sonntag ab 20.30 Uhr MEZ, auf der eigentlich falschen Seite des Atlantiks.

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